Eike Örtel-Mascioni

Suche nach Wahrheit

Kunstwerke als Produkt menschlicher Kreativität sind ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens, denn sie erfassen alle Bereiche unserer Erfahrung: Entwicklungen, Ideen und Bewegungen in unserer Gesellschaft werden von Künstlern aufgenommen und in ihren Werken verarbeitet. Dies gilt auch für gesellschaftliche Widersprüche, für Probleme und Fragen des Zusammenlebens, Ängste des einzelnen oder von Gruppen, Beeinflussungen durch Politik oder Medien. Bildende Kunst hat die Möglichkeit, sehr komplexe und oft nur schwer durchschaubare Zusammenhänge durch künstlerische Mittel in eine bildhafte Form zu bringen und somit dem Betrachter als Gemälde anschaulich und damit eindringlich vor Augen zu führen.

 

Zentrales Thema im Werk von Dietermüller ist die menschliche Gestalt, die eine Auseinandersetzung mit der Umgebung im Bild austrägt. Der menschliche Körper steht oft im Kontrast zu dem ihn umgebenden Raum. Dietermüller verzichtet meist bewußt auf einen sichtbaren Pinselstrich. Der realistische Teil seiner Bilder ist bewußt geplant, während sich der abstrakt-gegenstandslose Teil beim Malen ergibt. Der abstrakte Bereich im Bild dient ihm dabei als Stimmungsträger. Träume. Begierden und Charaktere werden in verschlüsselter Form sichtbar gemacht.

 

Dietermüller arbeitet mit den Ausdrucksmitteln realistischer Malerei: Menschen sind als Menschen erkennbar. Und sie leben mit ihren Träumen, auch Alpträumen, mit ihren verborgenen Sehnsüchten, ihren im Unterbewußtsein wurzelnden Phantasien, die der Künstler als ebenbürtige Realitäten ernst nimmt. Dem Betrachter erschließen sich seine Bilder als Szenerie. Wir blicken durch die Rahmen in eine Art Theater mit kunstvoll verknüpften Figuren, die miteinander umgehen und sich auf der stummen Leinwand doch etwas zu sagen haben.

 

Der Maler schöpft aus dem unendlichen Reichtum der Mythologie und der Kunstgeschichte,jongliert auch mit Bildzitaten von Künstlern vergangener Epochen und schafft dadurch - symbolhaft überhöht - seine eigenen phantastischen Bildwelten. Menschliches Zusammenleben, geprägt durch individuelle und zugleich gesellschaftliche Bestimmtheit, - das ist der zentrale Punkt, um den die schöpferische Phantasie des Künstlers kreist. Der Maler begegnet uns jedoch nicht mit einem belehrend erhobenen Zeigefinger, wenn er sich darauf einläßt, uns mit seiner Kunst etwas sagen zu wollen. Sein realistischer Einstieg und seine symbolhaften Verschlüsselungen enthalten unendliche Interpretationsmöglichkeiten. Sie fordern geradezu Bestätigung, aber auch Widerspruch heraus und laden zur Entdeckung seiner Absichten ein, werden zum geistigen Spielfeld. Auch die kontrastreiche Mixtur zwischen geistigem Anspruch, den modern erscheinenden Figuren und andererseits seiner altmeisterlichen Malweise schafft Interesse und Irritation gleichermaßen. Die Stärken von Dietermüller liegen neben der Ausprägung seiner unverwechselbaren Handschrift in der Kraft und der Lust zu experimentieren .

 

Mit seiner autobiographischen Malerei will er, wie er sagt, in sein Unbewußtes eindringen. Auch der im Frühjahr verstorbene österreichische Maler Rudolf Hausner, den Dietermüller sehr schätzt, hat die Malerei als „Instrument des Forschens" benutzt und den Pinsel „als Spaten für das Ausgraben der Dunkelzone". Alogische Wirklichkeitsfragmente, Traumvorstellungen dringen in die Bildkonstruktion ein. Gerade in den phantastischen Bilderwelten von Dietermüller, die sich mit dem Weiblichen auseinandersetzen, wird Kunst nicht nur als ein Prozeß der Bewußtmachung verstanden, sondern sie zielt auf Bewältigung und Veränderung, und besitzt damit eine Zukunftsperspektive, auch wenn sich einzelne Werke oft zunächst mit dem Aufzeigen von Problemen und Konflikten begnügen müssen. Dietermüller konzentriert seine Aussage auf das Wesentliche und überläßt es dem Betrachter, eine Zuordnung seiner gemalten Szenen vorzunehmen. Viele seiner Arbeiten sind Belege für vielfältige Versuche, Widersprüche und Probleme in unserer heutigen Gesellschaft auszudrücken, um sich nicht nur selbst mit den Problemen zu befassen, sondern Menschen zum Nachdenken und Handeln aufzufordern.

 

Dietermüllers Auseinandersetzung mit alten Meistern in Technik und Ausdruck wird in mehreren Arbeiten deutlich. Seine Versuche bis zu Michelangelo hin, Künstler in seinem doch eigenständigen Werke zu kopieren, wirft ein neues Licht auf das Original und trägt somit dazu bei, das Bild von Dietermüller unter einem neuen Blickwinkel zu sehen und darüber hinaus, ihm eine neue Aktualität zu verleihen.

Dietermüllers Kunst geht aus der Stille hervor; seine Arbeiten mit einer ganz persönlichen Bildsprache fordern Stille und verlangen auch vom Betrachter Stille, die dazu erforderlich ist, daß sich jedes Werk dem ruhig schauenden Auge gegenüber zur vollen Wirkung entfalten kann. Die Durchlässigkeit von Innen und Außen, die Verschränkung von privater und phantastisch-phantasievoller Umgebung, Konkretem und Fiktivem, von Geschichte und Gegenwart, Alltag und Legende, dies sind die Bestandteile der Ikonographie von Dietermüller. Jenseits der ersten Verblüffung durch präzisionistische Augentäuschung wird das Vertraute in seinen Bildern unvertraut, Figur und Gegenstand werden zum Symbol ihrer selbst. Die Vielschichtigkeit der Bilder im Bild entspricht der Vielfalt der Realitäts- und Wahrnehmungsebenen. Nichts ist so, wie es uns beim ersten Hinsehen erscheint. Die Wirklichkeit ist nicht an der Oberfläche, Tag und Traum vermischen sich.

Thomas Mann schrieb: „Phantasie haben heißt nicht, sich zu einer Sache etwas ausdenken, sondern sich aus einer Sache etwas machen." Ich glaube, es gibt kaum einen schöneren und zutreffenderen Satz für Dietermüllers Kunst.

 

Eike Örtel-Mascioni, Kunsthistorikerin Wallerfangen, den 17.11.1995